In meiner Arbeit als Pflegeberaterin wuchs ich schnell hinein. Ich lernte, dass es neben Fachwissen und Organisation noch etwas gab, das vielleicht sogar noch wichtiger war: Mut machen, motivieren und positiv bestärken.
Es war an einem Dienstag, der Termin war schon lange vereinbart, als ich Ehepaar Pusteblume kennenlernte. Am Telefon hatten Herr Pusteblume und ich sofort eine Verbindung gespürt. Mit seiner freundlichen Art und seiner Offenheit weckte er mein Interesse und ich freute mich, ihn endlich kennenzulernen und ein Gesicht zur Stimme zu sehen. Über seine Frau verriet er mir am Telefon recht wenig und sagte ich solle mir selbst ein Bild machen.
Ich klingelte an der Tür im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Ein älterer Herr öffnete mir. Er wirkte freundlich, einladend und auch ein wenig aufgeregt. „Endlich ist jemand da, dem ich erzählen kann, wie es wirklich ist“ sagte er. Seine Frau hörte ich aus der Küche, sie sprach laut mit jemandem, so als hätte sie gerade Besuch. Herr Pusteblume und ich setzten uns ins Wohnzimmer, das die Spuren eines liebevollen, gemeinsamen Lebens trug. Familienbilder schmückten den Wohnzimmerschrank. Herr Pusteblume bat mich, kurz mit ihm die Nachrichten zu Ende zu schauen. Ich setzte mich aufs Sofa. Und dann brach es aus ihm heraus.
Er sprach von seiner Frau, von der Liebe seines Lebens, den gemeinsamen Reisen, dem Lachen, dem geteilten Alltag. Er konnte kaum aufhören in den Erinnerungen zu verweilen.
„Sie ist doch da“, sagte ich leise, als ich sie weiter in der Küche reden hörte. Doch er schüttelte nur den Kopf. „Körperlich, ja aber ihr Wesen… ist schon lange gegangen.“
Er sprach von ihrer Demenz. Davon, dass sie den ganzen Tag redet, Sätze, die niemand versteht. Mal lachend und mal schimpfend. Sie ist nie still, nur wenn sie schläft. Aber eine Gesprächspartnerin ist sie eben nicht mehr. „Ich vermisse sie, jeden Tag und das obwohl sie noch da ist.“
Ich war berührt und gleichzeitig voller Bewunderung. Wie konnte dieser Mann bei so viel Lärm, bei so viel innerem Abschied so ruhig bleiben?
„Sie machen einen fantastischen Job“, sagte ich. In dem Moment kamen ihm die Tränen. Plötzlich Schritte, die Stimme wird lauter und da betritt Frau Pusteblume den Raum. Sofort sagt er ihr, dass sie sich hinsetzen soll und sie hört auf ihn. Sie schaut mich irritiert an und ich mache mein freundlichstes Gesicht das ich auf Lager habe. Und tatsächlich, sie lächelt zurück. Doch im nächsten Augenblick fängt sie an zu schimpfen, laut also sehr laut und Herr Pusteblume schreitet ein. „Wenn du nicht ruhig bist musst du gehen.“ Ihr Schimpfen wird leiser und mündet in ein Brabbeln.
Mir wird klar, Menschen wie Herr Pusteblume werden oft in unserer Gesellschaft übersehen. Niemand kann erahnen wie anstrengend es ist mit einer Person zusammenzuleben, die sich kontinuierlich zurück entwickelt und rund um die Uhr Unterstützung bei den Alltäglichkeiten benötigt. Ständig die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen und sich mehr um das Gegenüber als um sich selbst zu kümmern. Ich bewundere die Geduld und Liebe, die Herr Pusteblume aufbringt und bestärke ihn in seinem Tun.
Trotzdem überlegten wir gemeinsam, wie wir ihn entlasten können. Welche Hilfen möglich wären und wie er wenigstens ein bisschen Zeit für sich finden könnte. „Ich komme an meine Grenzen“ erklärt er. „Das will ich nicht. Dafür liebe ich meine Frau zu sehr.“ Er lächelt sie an, doch sie scheint durch ihn durchzuschauen.
Wochen später, es ist kurz vor Weihnachten, treffe ich ihn wieder.
Im CaféTausch unseren Treffpunkt, an dem Senioren zusammenkommen, um zu reden, und eine gute Zeit miteinander zu verbringen bei Kaffee und Kuchen. Frau Pusteblume ist zu Hause mit einer Mitarbeiterin aus dem Betreuungsteam. Sie ist versorgt und Herr Pusteblume kann in Ruhe einfach die Seele baumeln lassen, für den Augenblick.
Er sitzt dort und ich sehe, er betet, nicht allein aber aus ganzem Herzen. Denn er weiß: Seine Kraft kommt von Gott und nicht aus sich selbst.
Ein Gott, der ihn Tag für Tag neu ausstattet, mit Liebe, mit Geduld und mit einer übernatürlichen Kraft, die bleibt, wenn alles andere zerbricht.
Ein Gott, der ihn sieht und nicht übersieht, der hinschaut und nicht wegschaut.
Ein Gott der im Schmerz Trost gibt und der jede Träne auffängt und sie eines Tages verwandelt in Freudentränen.
Ein Gott der ihn bei der Hand nimmt und diesen schweren Weg mit ihm geht.
„Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, ein bewährter Helfer in Zeiten der Not.“ – Psalm 46,2
Und plötzlich spring er auf, nimmt seine Jacke und geht los. Getrennt zu sein von seiner Frau muss er lernen auszuhalten.
Aber für den Moment hat er neue Kraft getankt.
